17.08.12

MEDIA VITA IN MORTE SUMUS

Mehr Neues vom Toten
Nach bestem Gewissen entziffert

 
Kürzlich stand hier zu lesen:" Auf der kleinen, vom Wald umsäumten Sandinsel im Bach, der vor unserem Haus fließt, fanden Arbeiter vor nicht allzu langer Zeit die Überreste eine Mannes. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, rahmengenähte Budapester und eine abgewetzte Ledermappe die ihn, -schwer zu schätzen, aber sicher jenseits der Vierzig- wohl schon zu Schulzeiten begleitet hatte. Darin fanden sich vollgeschriebene Schulhefte und auch ausgedruckte Seiten; Notizen, Texte, Zahlen, Gekritzel, die meisten zur Unkenntlichkeit vergammelt. Wie übrigens auch der sie vermutlich einst verfassende, unbekannte Herr. Das Leibliche ist flüchtig, Schatten sind wir."
 
Die letzte Deutung der Überreste hier im Wortlaut: 
 
Am dreiundzwanzigsten Juni gegen neun Uhr vormittags starb mein Vater. Er starb im Schlaf. Mein Vater starb im Bett. Er starb an den Folgen eines Gehirntumors. Mein Vater starb an den Folgen einer Gehirntumoroperation in seinem Bett. Er starb einfach.

Meine damalige Freundin, ich war in dem Alter, als man seine Frauen noch so nannte, meine damalige Freundin weckte mich nach dreieinhalb Stunden Schlaf. Dreieinhalb Stunden sind schlechter als wach bleiben. Du bist völlig in der Sülze nach dreieinhalb Stunden. Sie rüttelte mich wach, stand zitternd am Bett und sagte: "Deine Mutter hat... auf dem Anrufbeantworter...deine Mutter. Dein Vater stirbt."

Ich wankte aus dem Bett, quer durch die Wohnung. Die Taste gedrückt und aus dem winzigen Lautsprecher des Kombigerätes klang blechern die Stimme meiner Mutter, völlig isoliert von irgendwelchen Gefühlen, fremd, Bericht erstattend: "Komm schnell, dein Vater stirbt. Die sagen, er ist tot. Er stirbt. Die sagen, er ist tot. Komm...die behaupten..."

Seit diesem Moment habe ich eine Abneigung gegen das Abhören meines Anrufbeantworters. Ich rechne immer nur mit schrecklichen Nachrichten. Reißt mich das Telefon gar aus dem Schlaf, was oft passiert, weil ich lange arbeite in der Nacht, reagiere ich mit Paranoia. Ich vergrabe den Kopf unter den Kissen. Oder springe von Furien gehetzt zum Hörer. Ich mag das nicht mehr, das überraschende Klingeln, seit damals. Eigentlich, wenn ich's mir recht überlege, hasse ich das Telefon sogar, diesen schwarzen Klotz boshafter Außenwelt mitten in meiner Wohnung. Niemals hat er mir Gutes übermittelt.

Anziehen, zum Haus meiner Eltern fahren. Muss wohl passiert sein. Ich hab's vergessen. Ich erinnere mich daran, dass ich dort im Flur zusammenbrach. Wir –meine damalige Freundin und ich- betraten die Wohnung meiner Eltern, meine Mutter stand im Flur und meine Schwester stand im Flur. Beide mit völlig verprügelten Gesichtern, geschwollen, verschoben, panischer Blick, die Arme über der Brust verschränkt. Meine Mutter schüttelte nur den Kopf. Ich brach zusammen mitten in der Diele. Aus jedem Knie wurde der Splint gezogen und ich klappte wie ein seit Jahren auf diese Gelegenheit wartendes Scheißblechmännchen zusammen. Ich sackte auf den Boden und riss mich an den eigenen Haaren, machte ein Geräusch, das meiner damaligen Freundin die schiere Angst ins Gesicht meißelte.

Das war der Moment, als ich zum ersten Mal in meinem Leben neben mich trat. Ich sah mich am Boden liegen, die Haare raufen, schluchzen, mit hässlich verzerrtem Gesicht und dachte ohne jede Gefühlsregung: "Aha, das ist also der Moment des Schmerzes. So sieht das aus. Da kommen all die Worthülsen her. Sie haben doch Bedeutung. Da fängt der Schmerz an!"

Später saß ich am Bett meines Vaters, der im Schlaf an den Folgen einer Gehirntumoroperation gestorben war, ich saß an seinem Bett und betrachtete sein Gesicht. Die Augen geschlossen, die Lippen mit abwärts geneigten Mundwinkeln leicht geöffnet. Ich sah seine Zähne. Er hatte sein Zähne nie besonders gepflegt. Vielleicht war meine Angst vor Zahnärzten vererbt, dachte ich. Draußen fing ein herrlicher Frühsommertag an seine Knospen und Blüten und Flügel zu recken. Beim Nachbarn bauten zwei Handwerker die Garage aus. Ich wünschte nichts sehnlicher, als sie mit einem Hochpräzisionsgewehr vom Gerüst zu schießen. Sie störten meine Verwirrung. Meine Trauer, das immer wieder aufflackernde Schluchzen, das Heulen, die wirren Sätze, die ich meinem Vater mit auf den Weg gab. Sie störten mich. Sie störten ihn. Ich wollte sie töten, wollte die Welt anhalten, jedem ins Gesicht spucken, brüllen, mit rostiger Klinge einritzen: "Seht her, das ist mein Vater, er ist tot! Und ich habe ihn geliebt!" Aber ich saß nur da, knetete die kälter werdenden Finger und beobachtet durch all die Tränen und den Rotz die fröhlichen Männer auf Nachbars Baustelle.

Wir tränkten das Haus mit Schmerz. Obwohl es ein altes, fast behäbiges Haus war, das einiges aushalten konnte, sollte es sich davon nie mehr ganz erholen.

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